Autor: Kurt O. Wörl
Fotografie ist mehr als Technik, mehr als Blende und Belichtungszeit. Sie ist eine Schule des Sehens, ein stilles Gespräch mit Licht und Schatten, ein Zwiegespräch zwischen Mensch und Welt. Wer mit der Kamera unterwegs ist, lernt die Welt neu zu lesen – in Farben, Formen, Düften, Geräuschen. Ich lade ein, mich auf diesem Weg zu begleiten.
Ich bin ein leidenschaftlicher Reise- und Landschaftsfotograf. Als Lichtfänger habe ich gelernt: Man sieht nicht nur mit den Augen. Wer wirklich begreifen will, muss mit dem Herzen schauen, wie es Antoine de Saint-Exupéry in „Der kleine Prinz“ so wunderbar formuliert hat. Denn das Herz allein vermag es, Natur und Landschaft so zu wägen, dass aus einem Bild mehr wird als bloß ein schönes Abbild. Erst wenn Blick und Herz zusammenwirken, lernt der Fotograf, was Schönheit bedeutet, welche Formen und Farben das Auge allein oft übersieht, und wie viele Nuancen von Farbe, Licht und Schatten sich in der großen Natur verstecken – bereit, gelesen zu werden. Harmonielehre, der Goldene Schnitt, der Bildaufbau, das Wissen über die Gestaltungsgrundsätze helfen dem leidenschaftlichen Lichtfänger, in einem Bild vielleicht eine ganze Geschichte zu erzählen, manchmal sogar ein anrührendes Märchen.
Manche Fotografen greifen zu Farbfiltern, um besondere Effekte zu erzielen. Doch dabei wird eines oft vergessen: Licht, das durch rotes, blaues, grünes oder gelbes Glas fällt, erscheint uns nur deshalb in dieser Farbe, weil gefärbtes Glas einzig seine eigene Farbe durchlässt. Alle anderen Farben des Lichtes werden gedämpft oder ganz verschluckt. Farbfilter sind nicht objektiv. Sie dulden nichts, was nicht ihrer eigenen Farbe entspricht. Ich nenne Farbfilter bisweilen scherzhaft die „Rassisten der Optik“. Wir sehen die Welt nur noch durch ein Farbsieb. Die rosarote Brille, von der wir oft sprechen, ist nur ein anderes Wort für diese Illusion. – Ich verwende bei der Aufnahme keine Filter und setze sie beim Entwickeln meiner Werke auch nur selten ein und wenn, dann mit Bedacht.
Begleiten Sie mich also durch die Jahreszeiten, mit ungefiltertem Blick in die Natur.
Sommer
Lichtsehen – das bedeutet zum Beispiel: das satte, lebendige Grün eines Sommertages mit allen Sinnen wahrzunehmen. Es bedeutet, das Gefühl von Geborgenheit zu spüren, das entsteht, wenn das Licht durch die Krone eines alten Baumes fällt. Ich liebe es, in meiner Umgebung solche Bäume aufzusuchen. In solchen Momenten beginnt in mir ein stilles Zwiegespräch mit den Wurzeln, dem Stamm, den Ästen, den feinen Zweigen. Die Blätter flüstern mir Geschichten zu, hüllen mich ein in eine Frische, die mehr ist als bloße Kühle – es ist eine leise Umarmung der Natur.
Manchmal, wenn ich am frühen Morgen auf Motivsuche gehe, liegt der Tau noch wie ein glitzernder Schleier auf den Grashalmen. Das Gezwitscher der Vögel ist dann die einzige Geräuschkulisse, die mein Ohr erreicht. Und in meiner Nase liegt der Duft von entstaubter Natur – von feuchter Erde, von frischem Wasser. Mit jedem Atemzug füllt sich meine Lunge mit dieser reinen, gereinigten Luft. …bis… ja, bis die Sonne schließlich höher steigt und die Schatten aller Dinge sich aufrichten, als würden sie sich für den Tag vorbereiten. In diesem leisen Erwachen liegt ein Frieden, der kaum auszuhalten ist, so still und groß fühlt er sich an.
Wenig später beginnt die Sonne, mit ihrem Licht die Weite zu überfluten. Sie fängt sich im metallischen Glanz des Gefieders futtersuchender Vögel. Die Farbpalette über mir im Blätterdach wird schmaler. Oben sehe ich die Welt nun gelbgrün, während unter mir das Blaugrün der Schatten langsam wächst. Der Gesang der Vögel wird leiser. Der Morgen entfaltet sich, dehnt sich aus, wird zu einem neuen Tag.
Das Licht wird stärker, heller, zwingender. Alles um mich herum leuchtet auf, als hätte es nur auf diesen Moment gewartet. In solchen Augenblicken erscheint das Rot des Klatschmohns, das leuchtende, tiefe Blau einer Kornblume, das zarte Violett einer Wegewarte in einer Intensität, als würde ich sie zum allerersten Mal sehen. Kennen Sie dieses Gefühl, als ob durch Ihre Adern Milch und Honig fließt? So ergeht es mir an diesen Tagen, wenn ich als Lichtfänger unterwegs bin. In solchen Momenten begreift man, wie heilsam es ist, das vermeintlich Wichtige des Alltags hinter sich zu lassen und ganz in das innere Heiligtum, das Sanctum, einzutreten.
An Sommertagen endet meine frühmorgens begonnene Motivsuche gegen zehn Uhr. Jetzt nähert sich die Sonne ihrem Zenit. Die Schatten des Hochsommers werden hart, Farb- und Schattennuancen verschwinden im prallen Sonnenlicht. Deshalb lautet eine leicht zu merkende Faustregel für das sommerliche Fotografieren im Freien: „Zwischen Zehn und Drei hat der Fotograf frei.“
Herbst
Und dann kommt der Herbst. Der ewige Wechsel beginnt. Ist es nicht gerade der Herbst, der es verdient, mit allen Sinnen erfahren zu werden? Wer kennt sie nicht, diese kühlen, klaren Herbstmorgen, an denen wir schweigend über abgeerntete Felder gehen, in eine Stunde von fast unwirklicher Klarheit eintauchen?
Herbst – das ist die Zeit, in der die Blätter gelb, zimtfarben und rot erglühen. Ein wildes Spiel der Farben, ein Rausch der Sinne. Und immer ist es das Licht, das diesen Farben ihre Lebendigkeit gibt, das sie brechen lässt, spiegeln lässt. Natur wird in diesen Tagen zu einem bewegten, flüchtigen Bild. Der Herbst duftet nach nassem Laub, nach Erde, nach Abschied. Er ist das leise, raschelnde Fallen reifer Früchte im noch warmen Licht der Sonne. Jetzt, wo die Tage kürzer werden, verliert das Grün des Chlorophylls seine Herrschaft. Es macht Platz für das Gelb des Xanthophylls, das Orange und Rot des Karotins. Alles beginnt zu fallen. Und angesichts des sterbenden Blätterlaubs erinnere auch ich mich an meine eigene Vergänglichkeit.
Im Herbst zieht es mich oft zu alten Friedhöfen – jenen Nekropolen, die im Spiel von Licht und Schatten eine besondere Melancholie entfalten. Wenn ich dort durch die Gräberreihen spaziere, knackt es unter meinem Fuß. Eine Eichel. Achtlos zertreten. Dabei hätte aus ihr ein Baum werden können, größer und langlebiger als mein Menschenleben. Vielleicht hätte sie Nahrung für ein Eichhörnchen bedeutet – dann wäre aus dem Baum nichts geworden, doch auch so hätte die Eichel ihren Sinn erfüllt. Das Leben ist ein Kaleidoskop der Möglichkeiten. Solche Gedanken kommen nicht auf Abruf, sie schleichen sich still heran, während ich den Wandel der Natur genieße.
Wir sollten alle wieder lernen, im großen Buch der Natur zu lesen. Wieder lernen, uns behutsam an ihre Schönheit heranzutasten – an den bunten Saum der Blüten, an das Rauschen der Bäume, an das Funkeln der Tautropfen, die wie Geschmeide im Morgenlicht glänzen. Ich sage: Im Kelch einer einfachen Blume liegt die Ordnung des ganzen Kosmos verborgen. Die Fibonacci-Zahlenfolge, der Goldene Schnitt, den wir auf Bildern bewundern, findet sich im Muster des Wildhasen genauso wie im Blütenkranz der Sonnenblume wieder – und selbst unser eigener Körperbau folgt diesem Muster.
Erst wenn wir das Allerkleinste als Spiegel des Weltganzen begreifen, beginnt das Buch der Natur, uns seine uralten Geschichten zu erzählen: von Werden, von Blühen, von Reifen, von Vergehen und Wiederwerden. Die Welt ist hermetisch gefügt, wie ein Hologramm. Wir müssen nur lernen, das Sichtbare auch wirklich zu sehen – dann offenbart sich uns auch das Unsichtbare.
Winter
Ich gehe weiter, die Kamera in der Hand, nun durch winterliche Landschaften. Die Luft ist trocken und beißend kalt. Meine Nase färbt sich rot, der Schnee unter meinen Stiefeln knirscht. Mein Atem schlägt sich als feiner Dunst auf meine Brille nieder – nicht eben hilfreich beim Fotografieren. Die Sonne steht tief und ihr gleißendes Licht bricht sich in der weißen Weite. Ein Meer aus Schnee liegt vor mir, und Millionen winziger Kristalle blitzen mir entgegen. Eine Herausforderung für mich als Lichtfänger – und für die Blende meiner Kamera.
Die Bäume haben ihr Laub längst verloren. Ihre Lebenssäfte ruhen. Doch in ihrer Kargheit entfalten sie eine stille Würde, heben sich kontrastreich vor der hellen Landschaft ab. Sie mahnen auch uns zur Ruhe. Kurz ist das Tageslicht zur Wintersonnenwende. Jedes Jahr, am 21. Dezember, der kürzeste Tag, die längste Nacht.
Vor uns liegen nun die Raunächte. Diese geheimnisvollen zwölf Nächte zwischen Weihnachten und Heilig-Drei-König, die man mancherorts auch die „Zeit zwischen den Jahren“ nennt. In den Dörfern ziehen Goaßlschnalzer durch die Gassen, Peitschen knallend, um die Geister des Winters zu vertreiben. In den Städten ist davon nur noch das laute Knallen der Silvesterraketen geblieben. Der ursprüngliche Sinn ging verloren. Doch dem Lichtfänger ist das nur recht – das Feuerwerk über den Dächern bietet wiederum Motive genug für nächtliche Lichtjagden.
Die Raunächte sind auch eine Zeit der inneren Einkehr. Die Welt wird langsamer. Es ist die Zeit der Kerzen, der Plätzchen, des Glühweins. Auch im warmen Kerzenlicht lassen sich wunderbare Bilder einfangen. Und während draußen die Dunkelheit regiert, beginnt in diesen Nächten der Wiederaufstieg des Lichts – still, unscheinbar, aber unaufhaltsam.
Frühling
Und dann kommt der Frühling – leise zuerst, fast schüchtern, als traue er sich kaum, den Winter abzulösen. Doch mit jedem Tag entwindet er der Nacht ein kleines Stück ihrer Dunkelheit. Der erste Krokus, der sich zaghaft durch den noch kalten Boden bohrt, ist wie ein Botschafter der Farben. Es ist jene Zeit, in der das Licht zart und milchig durch den Morgendunst fällt, als wolle es die Welt erst sanft wachküssen.
Ich spüre es an den feinen Düften, die der Wind trägt – ein Hauch von jungem Grün, von feuchter Erde, durchzogen vom verspielten Zwitschern der Vögel, die den Tag begrüßen, als wäre es der erste überhaupt. Die Weidenkätzchen glänzen im Sonnenlicht wie winzige, silberne Flammen. Ich gehe mit meiner Kamera durch das erwachende Land und jedes Bild, das ich einfange, ist ein kleines Hymnus auf das Neugeborene.
Frühling – das ist jener Augenblick, in dem der erste Schmetterling ungeduldig vor mir aufsteigt und der Falterflügelschlag die Luft vibrieren lässt. Es ist das leise Knistern im Unterholz, wo das Leben beginnt, sich wieder aufzurichten. Und wenn ich dann die ersten Knospen entdecke, die sich noch zögernd öffnen, empfinde ich eine tiefe Dankbarkeit, Zeuge dieses vorsichtigen Wunders sein zu dürfen.
Die Sonne wird wärmer, das Licht mutiger. Bald schon wird es sich wie goldene Finger durch die frisch ergrünte Baumkrone tasten. Die Landschaft beginnt zu singen. Ein leiser, vielstimmiger Choral aus Farben und Formen – nichts Lautes, nichts Aufdringliches, sondern das schlichte Lied des Lebens, das sich nicht aufhalten lässt.
Ich sehe die ersten Schwalben, die in kühnen Bögen durch den Himmel segeln, als würden sie ihre Freude am eigenen Dasein malen wollen. Das Blau des Himmels wird satter, tiefer, so als hätte es im Winter Kraft gesammelt für diesen Auftritt. Und mit jeder Blüte, die sich entfaltet, scheint auch die Seele des Lichtfängers ein wenig mehr aufzublühen.
Noch im Winter freue ich schon, als Lichtfänger bald wieder jubeln können, wenn der Frühling sein blaues Band wieder durch die Lüfte flattern lässt – wie das Eduard Mörike so schön in seinem Gedicht formulierte. – Ich fasse in folgenden Worten zusammen:
„Wie gern seh‘ ich Form, Kontrast und Farbenklänge,
wenn der Frühling streichelt mein Gesicht.
Ein stilles Klangerlebnis, Lichtgesänge –
das große Bilderbuch aus Licht.“
Und jedes Jahr freue ich mich aufs Neue darauf.
Dieser Beitrag wurde zuerst auf NEURONENSTURM veröffenticht.