Das Kinderparadies Dänemark

In der dänischen Gesellschaft gibt es ein ungeschriebenes Gesetz, eine goldene Regel, so etwas wie einen Grundkonsens, der das gesamte gesellschaftliche Leben durchzieht. Es lautet: “Seid nett zueinander, auch dann, wenn euch gerade nicht danach ist!”

Und am nettesten ist man in Dänemark zu Kindern. In der Tat: Die Geduld und den Gleichmut, welche dänische Eltern auch für die lebhaftesten ihrer Sprösslinge aufzubringen in der Lage sind, sind schon erstaunlich. Sicher findet man auch strenge Eltern in Dänemark, aber die Chance ist groß, dass es sich dabei um deutsche oder britische Touristenfamilien handelt.

Als wir 2006 mit unserer damals 11jährigen Tochter in Dänemark weilten, hatten wir ein schönes Sommerhaus direkt am Limfjord, mit genialem Blick über selbigen. Unsere Tochter hatte sich gerade mit einigen Urlaubs- und Nachbarkindern angefreundet und sie tobten natürlich auf dem Naturheidegrundstück herum. Dieses war nur zu einer Seite, zu einem Nachbargrundstück hin, mit einem niedrigen Zaun umgeben, um die dort freilaufenden Haushäschen und Meerschweinchen an der Flucht zu hindern. Es kam wie es kommen musste, unsere Tochter fiel beim Toben rücklings in den niedrigen Zaun und riss ihn auf ganze Länge nieder. Vor meinem geistigen Auge sah ich schon einen Nachbarn mit zornesrotem Kopf aus dem Haus stürmen und den Urlaubsfrieden gefährdet. Doch der Nachbar war eine dänische Nachbarin und die kam gemäßigten Schritte freundlich lächelnd auf uns zu. Wir waren gerade dabei, die fluchtgeneigten Kleintiere aufzusammeln – und die Lady meinte nur kopfschüttelnd:

„Das musste ja passieren!“ sagte sie in astreinem Deutsch. „Sind halt Kinder und mein Mann hat morgen wieder etwas zu tun. Ich hatte es ihm ja gleich gesagt, der Zaun hält nie!“

Statt der erwarteten Standpauke gab es eine Einladung zu Kaffee und Kuchen und wir hatten gleich noch jemanden gefunden, der uns ein paar Tipps zu lohnenden Zielen und für mein Fotohobby gab. Es wurde ein sehr schöner Urlaub, wir hatten viele Abende auf der Terrasse der Nachbarn nebst üppigen Grill-Erzeugnissen verbracht.

Apropos Kaffee und Kuchen: Immer wenn wir auf Jütland sind, besuchen wir mindestens einmal das nette “Café Sundsørehus” mit Kunstausstellung, in einem Kaff namens „Sundsøre“. Das liegt nördlich von Skive, direkt am Fähranlegesteg, von wo aus der südliche Sund des Limfjords, an der engsten Stelle mit der Fähre nach Hvalpsund überquert werden kann (man spart sich einige Kilometer, statt um den Sund herumzufahren).

Also warum wir regelmäßig das Café dort aufsuchen hat drei Gründe: Erstens, weil wir dort den besten Æblekage (grobes, süßes Apfelmus, wahlweise mit gerösteten Paniermehl-, Krokant- oder Nussschichten und einer Orgie von schwerer Sahne) gibt.

Zweitens, weil das Café zugleich Ausstellungsraum mit Galerie für allerlei Kunstprodukte wie Tonwaren, Bilder usw. ist und die beste Ehefrau von allen gerne derlei anguckt – und leider auch noch lieber kauft. Aber auch aus einem dritten Grund zieht es uns dort immer wieder hin – der Kinderfreundlichkeit des Wirts wegen. Einmal waren wir gerade wieder dabei, unseren Æblekage zu genießen, die Bude war ziemlich voll und einige Kinder rannten spielend und lachend durchs Lokal von und zu einer extra für sie bereitgehaltenen, üppig ausgestatteten Spielecke – und manchmal auch um die Tische der Gäste herum. Niemand, auch wir nicht, störte sich daran. Plötzlich griff sich ein Mann am Nebentisch einen etwa vierjährigen Jungen, packte ihn ziemlich derb am Arm und zischte ihn – deutlich durchs Lokal vernehmbar – an „Du setzt Dich jetzt auf Deinen Platz sonst setzt es was!“ Der Kleine hatte wohl Schmerzen von dem derben Griff und fing an zu heulen. Die Gespräche der Gäste verstummten und alle Blicke waren auf die Szene gerichtet. Da kam der Wirt und Hausherr zu seinem Tisch und sagte in prächtigem Deutsch: „Wenn Sie so mit ihren Kindern in Deutschland umgehen, kann ich das nicht verhindern. In diesen Räumen aber dürfen sich Kinder frei bewegen. Das ist der Stil unseres Hauses. Wenn Ihnen das nicht gefällt, dann gehen sie bitte!”

Der deutsche Vater entschuldigte sich und meinte, er wollte ja nur, dass sich die Gäste nicht von seinem Sohn gestört fühlen. Der Wirt: “Hat sich bei Ihnen jemand beschwert? Dann kann er auch gleich gehen!”

Das hat uns mächtig beeindruckt und auch, dass sich der Wirt immer wieder sofort an uns erinnert. Er hat quasi unsere Tochter im Zeitraffer erwachsen werden sehen.

Ja wirklich, Kinder haben es gut in Dänemark, sie bekommen den Platz, den sie brauchen. Sie werden respektiert. Manchmal so sehr, dass sogar schon mal eine ältere Dame, in der U-Bahn in Kopenhagen, für ein kleines Mädchen aufstand und ihr ihren Platz anbot. Ich war baff und man sah es mir wohl an: “Die Kleine ist doch viel schwächer als ich, Kindern fällt das Stehen schwerer als mir.” sagte die Dame freundlich lächelnd erst in Dänisch dann, weil sie an meinem “Wie bitte?” unsere Herkunft erkannte und, dass ich sie nicht verstand, in verständlichem Deutsch.

In Deutschland hört man Senioren ja eher klagen, dass die “jungen Leute von heute keinen Anstand und keine Erziehung” mehr besäßen oft verbunden mit den Worten: “Sowas hätt’s früher nicht gegeben!”

Ich habe gelesen, es gab wohl in den 70er-80er Jahren mal einen Trend: Es wurde – angeblich – auch in den Medien – propagiert, doch Kinder nicht völlig ohne Strenge aufzuziehen. Die Rückenstärkung für mehr Disziplin sei ausgerechnet aus Schweden über den Øresund herüber geschwabbt. Von dort drang die Kunde ins Dänenland man habe ein ganz “neues Erziehungsmittel” entdeckt, etwas völlig Neues und Wirkungsvolles: Eine Tracht Prügel!

Es soll Leute gegeben haben, die behaupten, das neue Mittel sei von einer deutschen Hausgehilfin eingeführt worden, welche auf diese Weise überraschend gut mit schwedischen Rangen fertig geworden sei. – Aber das halte ich für eine Legende – nicht die prügelbereite deutsche Haushälterin, die ist glaubhaft – sondern, dass dieser Trend in Dänemark jemals Gehör gefunden hätte. –

Und irgendwie erinnert mich das jetzt an Kurt Tucholskys “Grispholm”.

Kommentare sind geschlossen.